Grundsatzentscheidung und Selbstkritik

10. Juli 2016

Der folgende Blogbeitrag entstand anlässlich zweier Vorfälle von offen ausbrechenden Konflikten auf zwei Plenen der Kiezversammlung. Nach einer Nennung dieser zwei Fälle streift er kurz die Kritik an der Parteipolitik und beschäftigt sich zum Schluss mit dem Umgang mit Konflikten unter Versammlungsteilnehmer*innen, sowie mit der Bedeutung der Moderation von Plenen.

Auf der 9. Kiezversammlung haben wir gemeinsam beschlossen:
„Die Kiezversammlung setzt sich ein für ein Leben in Würde, in einer selbstorganisierten und solidarischen Nachbarschaft, und ist unabhängig von der Parteipolitik und Lobbygruppen.“

Ich war und bin der Meinung, dass zur Gewährleistung dieser Unabhängigkeit, Parteipolitiker*Innen entweder gänzlich von der Kiezversammlung auszuschließen sein müßten, oder mindestens gewisse Regeln von vorneherein notwendig sind, die ihre Mitarbeit an den tragenden Strukturen der Versammlung einschränken.

Da sich eine Mehrheit auf der Versammlung im Juni aber dagegen ausgesprochen hat, und wir uns stattdessen entschieden haben, erstmal auf Vertrauen, Verantwortung und Wachsamkeit zu setzen, ist die erste wichtige Entscheidung in der Kiezversammlung seit der Formulierung des zitierten Satzes gefallen. Ich halte sie für eine richtungsweisende Entscheidung, denn mit ihr wird unser Grundsatz (erst mal!) nicht in Form von verbindlichen Regeln praktisch konkretisiert.

Bei einer Abwesenheit von Regeln aber sind wir als einzelne Personen gefragt. Wir haben jetzt eine besondere Verantwortung dieser Versammlung gegenüber, d.h. allen anderen Einzelpersonen gegenüber, die an dieser Versammlung teilnehmen.

Auf der selben Versammlung wurde eine Frau der Grünen schrittweise dermaßen angegangen, dass sie die Versammlung verlassen musste. Obwohl ihr eigenes Redeverhalten nicht gerade respektvoll war, spricht der Vorfall nicht für uns, und damit meine ich auch mich selbst. Nach unserer Versammlung im Mai einen Monat vorher hat jemand anderes die Kiezversammlung ebenfalls verlassen, weil die Art und Weise, in der eine kontroverse Diskussion innerhalb einer AG ausgetragen wurde, ihn psychisch zu sehr belastet hat. Anlässlich beider Vorfälle ist Selbstkritik angebracht.

Der Fall der Grünen-Politikerin

Wenn wir Parteipolitiker*Innen nicht von vorneherein von der Kiezversammlung ausschliessen, wenn wir den Raum auch für sie offen halten, dann darf es nicht passieren, dass sie rausgemobbt werden, wenn sie trotzdem etwas sagen, das vielen Anderen nicht passt. Sie genießen das gleiche Recht, ohne Angst alles sagen zu können, was sie denken, wie jede*r andere auf der Versammlung auch. Wir haben uns aber dafür ausgesprochen, dass auf der Kiezversammlung Einzelpersonen sitzen, und dass sie kein Raum für die Propaganda von Parteien sein soll. Insofern schließt die Freiheit zu sprechen auch die Verpflichtung mit ein, dass die teilnehmenden Parteipolitiker*innen diesen Konsens respektieren. Aber wie sauber lässt sich das Sprechen und Agieren als Parteipolitiker*In von demjenigen als Einzelperson eigentlich trennen? Wie frei kann eine Person wirklich sprechen, wenn es heißt, sie solle „nur“ als Einzelperson sprechen, die sich bewusst dazu entschieden hat, Politik als Mitglied einer Partei zu betreiben? Ich möchte bezweifeln, dass das wirklich geht, und auch die Person von den Grünen, die von unserer Versammlung fortgedrängt wurde, hat das selbst zugegeben. Die Frage bleibt also offen, und wir müssen sehen, wie wir in Zukunft damit umgehen werden.

Ich persönlich möchte mich jedenfalls bei der betroffenen Frau entschuldigen. Wie gesagt, ohne Regeln haben wir eine unmittelbare Verantwortung den anderen Versammlungsteilnehmer*innen gegenüber, und damit meine ich mich selbst auch.
Die Art und Weise, wie hier mit einer Versammlungsteilnehmer*in umgegangen wurde, ist kein Ausdruck einer guten Kommunikationskultur. Wenn wir keine Regeln aufstellen, müssen wir uns aber genau darum kümmern: Dass wir eine Kommunikationskultur in der Kiezversammlung etablieren, die bereits die Würde beinhaltet, die wir uns auf die Fahnen schreiben. Wenn es keine Regeln geben soll, müssen wir direkt den würdevollen Umgang lernen – den direkten würdevollen Umgang miteinander.

Exkurs: Kritik an der Parteipolitik

Aber warum sind Parteipolitiker*innen eigentlich so ein großes Thema? Es müsste Aussenstehenden mindestens komisch, wenn nicht gar irgendwie suspekt vorkommen, wie wir uns bisher an ihnen abgearbeitet haben. Ein Versammlungsteilnehmer hat letztes Mal sogar offen zugegeben, er würde sich nicht sicher sein, ob er die Argumente für eine Abgrenzung von Parteipolitiker*innen überhaupt richtig verstehe, geschweige denn, ob er das wirklich wolle. Ich finde, das Thema Parteipolitik – also eine spezifische Art Politik, deren Repräsentant*innen die Parteipolitiker*innen gegenüber der Zivilgesellschaft unter Anderem sind – ist für unser Projekt einer Kiezversammlung nicht unwichtig. Denn anders, als das manch andere Versammlungsteilnehmer*innen sehen, ist eine Kiezversammlung sehr wohl Politik: das direkte Zusammenkommen und Zusammenbleiben von Menschen, um sich innerhalb ihrer alltäglichen Lebensbedingungen über diese Bedingungen auszutauschen, zu streiten und Entscheidungen über deren Gestaltung zu fällen – das ist absolut politisch. Und es hängt mit dem Charakter und dem Stellenwert der Parteipolitik in unserer Gesellschaft zusammen, dass das den meisten Menschen nicht bewusst ist.

Sofern ermöglicht eine Kritik der Parteipolitik vielleicht die Bewusstwerdung einer anderen Art von Politik, die wir innerhalb der Kiezversammlung (vielleicht…) bereits erleben, indem wir sie praktizieren. Und warum das nötig sein soll… Nun, die Ausrichtung der Parteipolitik auf das Allgemeinwohl scheint in Berlin auf vielen Ebenen nicht mehr als ein Lippenbekenntnis zu sein, um es mal etwas flappsig auszudrücken. Verdrängung und der Ausverkauf der Innenstadt ist dabei nur ein Aspekt. Natürlich ist es sinnvoll (wenn nicht gar unerlässlich) aus konkreten Betroffenheitslagen heraus den Kontakt zur Parteipolitik zu suchen – ob mit der Formulierung von Forderungen oder dem sonstigen Aufbau von Druck. Auch die strategische Zusammenarbeit mit einzelnen kieznahen Kommunalpolitiker*innen scheint nach dieser Logik verständlich. Die entsprechenden Beispiele aus der selbstorganisierten stadtpolitischen Szene Berlins offenbaren in dieser Hinsicht aber einen rein pragmatischen Umgang mit der Parteipolitik, bei dem es um das Inbewegungsetzen von Hebeln geht, und nicht um eine Identifikation mit den Parteien. Warum auch: Die Politik, aus der die Initiativen gegen Verdrängung und für eine solidarische Stadt kommen, findet bereits in der Zivilgesellschaft jenseits der Parteiapparate statt.

Und noch etwas ist zu bedenken: in Zeiten, in denen die autoritären und antidemokratischen Millieus auch aus der “Mitte der Gesellschaft” Zuwachs erhalten, sogar ihr parlamentarischer Arm, die AFD (eine vor-faschistische Partei), längst von der Parteipolitik absorbiert worden ist und am Wettbewerb um die Staatsmacht teilnimmt, stellt sich die Frage, ob nicht die demokratischen und antiautoritären Milieus allgemein das Bewusstsein von ihrer Politik als einer realen emanzipatorischen Alternative dringend benötigen.

Konflikte unter uns

Dann kann es aber nicht sein, dass Einzelne aufgrund von persönlichen Differenzen mit anderen Versammlungsteilnehmer*innen die Kiezversammlung verlassen, ohne dass nicht zumindest versucht wurde, diesen Konflikt zu thematisieren. Es ist eine Illusion, zu glauben, einfaches Ausklammern und Ignorieren persönlicher Konflikte bei der gemeinsamen politischen Arbeit würde reichen, damit diese sich nicht auswirken. Das funktioniert nicht. Was aber noch wichtiger ist: Die Qualität unserer Kommunikationskultur bemisst sich gerade danach, wie sehr wir in der Lage sind, Differenzen auszuhalten und mit Konflikten umzugehen (Achtung: mit Konflikten umgehen heisst nicht, immer auf Beriedung und Eintracht ab zu zielen. Wir können, wir sollten streiten. Die Frage ist: wie?).

Wir sollten uns ernsthaft überlegen, wie in Zukunft mit Konflikten umgegangen werden soll. Denn Konflikte wird es geben, sie sind Teil menschlicher Kommunikation. Wie gehen wird mit Differenzen zwischen Einzelpersonen auf der Versammlung um, die sich zu Konflikten hochschaukeln?
Für mich persönlich ist das einerseits eine Frage der Moderation. Wenn wir wirklich eine Versammlung aus Einzelpersonen sein wollen, in dem auch jede anwesende Stimme ihren Raum und ihre Zeit bekommt, dann muss dieser Raum und diese Zeit auch garantiert, notfalls durchgesetzt werden. Die Moderation muss dafür im Zweifelsfall als Autorität durchgreifen: mal um die einzelne Stimme vor dem Zugriff der Gesamtheit zu schützen, mal um den Raum zu bewahren, den sich eine einzelne Stimme gegenüber der Gesamtheit zu nehmen droht, und mal um einzelnen Stimmen im Streit miteinander einen gemeinsamen Rahmen zu geben (bzw. zu verhindern, dass sie diesen Rahmen sprengen). Aber das schließt mit ein, dass nicht immer dieselben Leute vorne sitzen und moderieren, denn wenn immer dieselben Leute durchgreifen müssen, bleiben sie eventuell in dieser Rolle hängen – sie werden zu Autoritäten. Die Moderation muss rotieren. (Übrigens werden nicht nur Dauermoderator*innen zu Autoritäten: Dauer-Organisator*innen, Dauer-Theoretiker*innen, Dauer-Vernetzer*innen und Dauer-Macher*innen allgemein werden das ebenfalls!)

Was uns zum zweiten Punkt bringt: Konflikte innerhalb der Kiezversammlung betreffen uns alle, und niemand kann sich da wegducken. Wenn wir uns keine Regeln geben, dann stehen wir alle in der Verantwortung, und es ist notwendig, dass jede*r seine bzw. ihre Rolle innerhalb der Kiezversammlung auch aktiv einnimmt. Es kann nicht sein, dass immer nur Einige hervortreten und sprechen oder Aufgaben übernehmen, und machen, und es kann nicht sein, dass bei Konflikten zwischen Einzelnen der Rest sich auf die Tribünen zurückzieht, und erstmal abwartet, wer gewinnt. Gerade bei Konflikten ist ein plurales, aktives Umfeld wichtig, weil es verhindert, dass Streitende in der Passivität der Anderen eine Bühne erhalten, auf der ihr Streit ausufert, je mehr ihre Egos im Rampenlicht stehen. Das frisst Energie und legt die gemeinsame Arbeit lahm. Konflikte sind ernst zu nehmen, aber es muss auch darauf geachtet werden, dass sie im Rahmen des Substantiellen bleiben und produktiv ausgetragen werden. Das ist mitunter die Aufgabe des Umfelds. Unabhängig von seinem Ausgang beinhaltet ein Konflikt übrigens immer die Möglichkeit zur Selbsterkenntnis der Konfliktparteien. Selbsterkenntnis ist wichtig für das Fällen von Entscheidungen, und in letzter Instanz muss jeder Konflikt zu einer Entscheidung führen, sonst hört er nicht auf.

Von Meggy Reuter (p)