Besuch einer Athener Kiezversammlung

3. September 2016

Der folgende Blogbeitrag handelt von einem Besuch bei einer Athener Kiezversammlung im Sommer 2016. Die Kiezversammlung und die Themen, die auf der besuchten Sitzung besprochen wurden, werden vorgestellt. Gegen Ende wird in einem Exkurs die politische Organisierung von Geflüchteten in Athen angerissen. In einem nachfolgenden Beitrag soll daran angeknüpft , und die Schnittstelle zwischen politischer Organisierung und ehrenamtlicher Gemeinarbeit beleuchtet werden.

Im August habe ich in Athen eine lokale Kiezversammlung besucht, das „Offene Plenum der Anwohner*innen von Agia Paraskewi„. Agia Paraskewi ist ein Stadtbezirk im Nordosten der Stadt. Es ist ein relativ ruhiger, nicht besonders armer und mehrheitlich kleinbürgerlicher Bezirk unter Syriza-Regierung. Das heißt aber nicht, dass hier politisch wenig geht: die Nazis wurden trotz des Aufstiegs der Partei „Goldene Morgenröte“ in den Jahren seit Ausbruch der Krise durch eine starke Antifa in Schach gehalten, und sind heute kaum sichtbar. Und als im Mai 2015 in Milano große Proteste gegen die internationale Messe EXPO 2015 stattfanden, zu denen auch in Griechenland mobilisiert wurde, fuhren Aktivist*innen aus diesem Stadtbezirk nach Italien. Fünf von ihnen wurden damals festgenommen, und ein halbes Jahr später verlangte die italienische Regierung ihre Auslieferung, worauf die örtliche Kiezversammlung die Solidaritätskampagne Free5 lancierte, die in ganz Griechenland bekannt wurde. Die Auslieferung hat nicht stattgefunden. (Im verlinkten Artikel ist nur von 4 der 5 die Rede, schlussendlich ist jedoch keine*r ausgeliefert worden.)

Die Kiezversammlung: Plenumsort, Finanzierung, Anlässe

Das Plenum von Agia Paraskewi findet einmal wöchentlich in ihrem Steki (das bedeutet ungefähr „angestammter Ort“, und kann sowohl einen Raum als auch einen Platz meinen) statt. Es ist ein kleiner Raum mit einer kleinen Küche, einem kleinen Tresen und Tischgarnituren. Im Keller hat das Steki eine kleine aber feine Bibliothek mit politischer Literatur. Dort lagern auch Farben und Stoff für die Transparente, die zu diversen Gelegenheiten gebastelt werden. An den Wänden hängen Poster vergangener Aktivitäten, die ziemlich ästhetisch sind, weil auch Grafiker*innen im Plenum sitzen. Broschüren von allerlei linken und anarchistischen Gruppen liegen zum Mitnehmen gratis aus (in Griechenland bestehen die Aktivist*innen auf die Unterscheidung zwischen „Anarchist*in“ und „Linke*r“…). Finanziert werden Miete und andere Ausgaben über Spenden der Teilnehmenden und durch Soli-Veranstaltungen. Das können Cocktail-Tresen sein, Konzerte, Theateraufführungen, Lesungen, Rebetiko-Abende (Rebetiko ist sozusagen der griechische Blues und bei Anarchist*innen – und Linken – sehr beliebt). Das Plenum gibt es seit 2009. Eine Zeitlang hat es in ganz Athen bis zu 50 Kiezversammlungen gegeben, die sich auf großen, stadtweiten Plenen auch untereinander koordiniert haben. Diese Phase ist mittlerweile vorbei, und es gibt heute vielleicht noch zehn oder ein paar mehr.

Gesprühtes Schablonenbild der Kampagne "Free5"

Gesprühtes Schablonenbild der Kampagne „Free5“

Die Sitzung, die ich besucht habe, war die erste der neuen Saison (die Sommerpause wird hier sehr ernst genommen, sogar Hausprojekte schließen weil die Besetzer*innen in Urlaub fahren…), und wir waren so 17-18 Leute. Die durchschnittliche Zahl der regelmäßig Teilnehmenden beträgt ungefähr das Doppelte. Unsere Neuköllner Kiezversammlung steht also gar nicht so schlecht da, wenn bedacht wird, dass es uns erst knapp einandhalb Jahre gibt, und das Nachbarschaftsplenum von Agia Paraskewi schon sieben. Auch dieses hat einen festen Kern von Leuten, die es hauptsächlich am Laufen halten, während Anwohner*innen bei Bedarf dazustoßen. Z.B. wurde griechenlandweit die Stromrechnung in den Enfia, eine relativ neue Steuer auf das Eigentum an Häusern, integriert. Viele Menschen waren (und sind immer noch) nicht in der Lage, diese Steuer pünktlich zu bezahlen, sodass ihnen der Strom abgedreht wurde, wenn sie in Verzug geraten waren. Das wurde 2012 auf dem Plenum zum Thema, an dem aus dem Anlass 100 bis 200 Menschen teilnahmen (In Griechenland besteht der überwiegende Teil der Gesellschaft aus Hauseigentümer*innen. Im Unterschied zu Berlin leben diese Menschen aber in ihren Häusern, und zwar die ganze Familie. Der Besitz eines Hauses oder einer Wohnung ist die materielle Absicherung der Familie, die in der griechischen Gesellschaft eine andere Rolle spielt als in Deutschland.). Durch landesweite Organisierung und gemeinsamen Druck unterschiedlichster außerparlamentarischer Kräfte auf die Regierung in Kombination mit Klagen der Betroffenen wurde schließlich durchgesetzt, dass die Stromrechnung wieder von der Steuer abgekoppelt wurde.

Themen: Stadtplanung und Solidarität

Auf der Sitzung wurden zwei Themen diskutiert. Das erste war der Fall des Grundstückes eines verstorbenen reichen Anwohners von Agia Paraskewi. Dieser vermachte es, samt der darauf errichteten Villa, dem Bezirk mit der Klausel, dass seine Neffen bis 2025 in der Villa leben dürften. Diese vermieteten sie aber weiter, und letztendlich entstand auf dem Grundstück ein Club-Restaurant für neureiche Schickimickis (ähnlich der großen Restaurants am Kottbusser Damm, nur grösser und kitschiger), wobei aber die Villa abgerissen wurde, was eine Verletzung des Testaments darstellt. Der Bezirk will nun die Genehmigung für das Betreiben des Club-Restaurants entziehen, und die Nutzung des Gebäudes bzw. des Grundstückes kommt wieder auf die Tagesordnung. Das Plenum diskutierte also, wie in diesen Prozess interveniert werden könne, um auf dem Grundstück einen Ort für die Nachbarschaft entstehen zu lassen. Die Diskussion verlief auf mehreren Ebenen. Es wurde darüber diskutiert, was die Nachbarschaft braucht, und wie sich dieses Bedürfnis artikulieren könne. Alle waren sich darüber einig, dass das Plenum nicht für alle Nachbar*innen sprechen könne, sondern nur eine Stimme unter vielen darstellt. Es soll eine große Versammlung zum Thema stattfinden, auf dem die Nachbar*innen eingeladen werden sollen, ihre Bedürfnisse selbst zu artikulieren, und ihre Wünsche fest zu halten. Dazu soll per Flyer und mit einem Transparent geworben werden, das auf dem zentralen großen Platz von Agia Paraskewi aufgehängt werden soll. Wichtig war allen Teilnehmenden am Plenum, dass der neue Ort auch Menschen mit geringem Einkommen zugänglich sein soll, bzw. dass auch eine unentgeltliche Nutzung möglich sein wird. Dieser Wunsch wurde im Rahmen einer generellen Kritik an den kommerzialisierten Formen des sozialen Miteinanders und der Warenförmigkeit der Freizeit geäußert, also durchaus sehr politisch. Trotzdem soll der neue Ort kein reiner Linke-Szene-Laden, sondern ein Begegnungsort für die ganze Nachbarschaft sein und auch von dieser mitgestaltet werden können.

Ein anderer Diskussionsstrang betraf die Trägerschaft des neuen Ortes. Hier konnten zwei Perspektiven unterschieden werden. Die eine stellte die selbstorganisierte Nutzung in den Vordergrund und die Vorteile, welche diese mit sich bringt: dass so ein wirklicher Freiraum entstehen könne, der nicht nur zur Begegnung aller, sondern auch zur kreativen Ausgestaltung und Entwicklung einer unabhängigen Gegenkultur beiträgt. Die andere Perspektive sah die Pflicht beim Bezirk, für die Unterhaltung des neuen Ortes Arbeitsplätze zu schaffen, um ihn zu betreiben. Hieran lassen sich zwei Tendenzen erkennen, die in den griechischen (und auch deutschen) linken und anarchistischen Milieus kontrovers diskutiert werden: soll der Staat dazu gedrängt werden, seinen gesellschaftlichen Pflichten nach zu kommen, um der Selbstausbeutung und der Abwälzung von Gemeinaufgaben auf die Gesellschaft entgegen zu wirken, oder sollen unter Abkehr vom Staat selbstorganisierte und unabhängige Strukturen geschaffen und unterhalten werden? Gute Argumente gibt es für beide Tendenzen, und oft integriert die außerparlamentarische Politik beide abwechselnd je nach strategischer Ausrichtung.

steki

Transparent im Steki: „Offenes Plenum der Einwohner*innen von Agia Paraskewi – Selbstorganisierter Sozialer Raum“

Das zweite Thema, das auf dem Plenum diskutiert wurde, war die Koordinierung praktischer Solidarität mit den Bewohner*innen eines Flüchtlingsheims in Rafina (das ist eine kleine Hafenstadt östlich von Athen). Die Aktiven des Plenums statten dieser Unterkunft regelmäßige Besuche ab, um die Isolation der dort lebenden Familien zu durchbrechen und direkte Beziehungen aufzubauen. Es wurde vom letzten Besuch berichtet, bei dem scheinbar zum ersten Mal das Eis richtig gebrochen werden konnte: alle saßen als gemeinsame Gruppe zusammen und kommunizierten ausgelassen über die Sprachbarriere hinweg (mithilfe jüngerer Geflüchteter, die etwas Englisch sprachen). Eine ältere Griechin, die direkt neben der Unterkunft wohnt, kam dazu. Sie meinte unter Tränen der Rührung, es sei das erste Mal, dass ihr der Anlass gegeben wird, sich mit den Menschen in der Unterkunft auseinander zu setzen, und dass sie diese Initiative der Aktiven toll finde. Sogar ein Bulle war so freundlich und offen, dass er sich fast mit in den Kreis gesetzt hätte… Einigen Aktivist*innen wäre das dann aber ein wenig zu viel geworden…

Im Verlauf der Diskussion wurden Möglichkeiten erörtert, wie diese neu geknüpften Beziehungen mit den Geflüchteten weiter vertieft werden konnten. Einige Aktive organisieren bereits Englisch-Kurse in der Unterkunft, darüber hinaus kam die Idee eines gemeinsamen Koch-Events im Steki auf, bei dem die Gerichte der einzelnen Länder gekocht werden könnten. So würden die Geflüchteten auch mal aus der Unterkunft rauskommen, um den Aktiven in ihrem Alltag zu begegnen. Außerdem wurden Ideen diskutiert, welche Angebote den Kindern und Jugendlichen gemacht werden könnten, z.B. durch einen Abend mit Kinderfilmen, einen Mal-Nachmittag oder ein gemeinsames Fußballspiel. Schließlich kam auch die Frage der politischen Organisierung der Geflüchteten zur Sprache… 

Exkurs: Die politische Organisierung von Geflüchteten in Athen

Hausbesetzung zur Unterbringung von Geflüchteten "Notara" im Zentrum von Athen.

Hausbesetzung zur Unterbringung von Geflüchteten „Notara 26“ im Zentrum von Athen.

Im Kontrast zu z.B. den Aktionen der politisch organisierten Refugees in Berlin (Besetzung des Oranienplatzes und der Gerhard-Hauptmann-Schule u.a.) dringt die politische Artikulation der Geflüchteten in Athen noch nicht so stark in die Öffentlichkeit vor. Griechenland wird von den meisten Refugees nur als Zwischenstation auf dem Weg in die reichen Länder des europäischen Nordens wahrgenommen, weswegen sie meist still die Verhältnisse aushalten, bis sie auf legalem oder illegalem Wege weiterreisen können. Vereinzelt gibt es politischen Ausdruck wie z.B. in Thessaloniki (die zweitgrößte Stadt des Landes), wo Refugees Demos veranstaltet haben, auf denen sie mit eigener politischen Stimme aufgetreten sind. Linke und anarchistische Gruppen tun was sie können, um die geflüchteten Menschen zu unterstützen. Z.B. gab es in der Innenstadt Athens eine Handvoll junger Hausbesetzungen zur Bereitstellung von Wohnraum für Geflüchtete, wie das Hotel City Plaza, in dem bis zu 300 Menschen wohnen, oder die Notara 26, auf die noch während meines Athenaufenthaltes ein Brandanschlag verübt wurde. Aber die katastrophale humanitäre Lage macht es schwierig, das ungleiche Verhältnis zwischen helfenden Griech*innen und hilfsbedürftigen Geflüchteten aufzuheben, um sich mit ihnen zusammen auf Augenhöhe zu organisieren. Außerdem gibt es unter Geflüchteten auch ethnische und nationalistische, sowie religiöse Trennlinien, was eine gemeinsame politische Organisierung zusätzlich erschwert. Umso wichtiger ist es, dass die Erfahrungen der Refugee-Proteste in Deutschland die Geflüchteten in Griechenland (und natürlich auch in den anderen europäischen Ländern) erreichen, um sie über die Erfahrungen ihrer politischen Bewegung zu informieren. Dies wird u.a. von Berlin aus mit der Daily Resistance versucht, einer Zeitung, in der Geflüchtete schreiben, und die redaktionell von ihnen betreut wird. Bei meinem Besuch in Athen habe ich dann auch u.a. die genannten Hausprojekte mit der Daily Resistance versorgt. 

Eine übertragbare Organisierungsform

Die Erfahrung beim „Offenen Plenum der Anwohner*innen von Agia Paraskewi“ hat bei mir ein sehr positives Gefühl hinterlassen. Es scheint, dass das politische Modell der Kiezversammlung in so unterschiedlichen Gesellschaften wie der griechischen und der deutschen gleichermaßen umsetzbar ist, weil es das Viertel, den Block oder den Kiez in allen Großstädten gibt. Außerdem scheinen sich Problemkomplexe herauszubilden, welche in mehr oder weniger allen europäischen Metropolen auftreten (werden), und die eine Ähnlichkeit der Organisierungsformen zu ihrer Bewältigung nahelegen. Die Organisierung der Zivilgesellschaft als Gegengewicht zum krisengetriebenen Staat und die Solidarität mit geflüchteten Menschen sind dabei nur zwei Beispiele. Auch strukturell und von den Verfahrensweisen des Plenums her ähnelt die Versammlung von Agia Paraskewi der unseren in Neukölln. Positiv überraschte mich, dass eine Moderation kaum nötig war, weil die Diskussion auch ohne Wortmeldungen und eine Redeliste unproblematisch dahinfloss. Natürlich gab es ab und zu Unterbrechungen und überlange Redebeiträge, aber die Teilnehmenden erschienen mir ziemlich eingespielt auf die direkt-demokratischen Verfahrensweisen des Plenums zu sein, sodass diese Zwischenfälle nicht zu sehr störten. Nicht zuletzt finden sich in den Schriften der anarchistischen und linken Gruppen Athens übereinstimmende Hinweise auf die Wichtigkeit lokaler städtischer Gemeinden, innerhalb derer die Gesellschaft sich die verantwortungsvolle Selbstorganisierung, die Solidarität und die politische Unabhängigkeit beibringen kann.

Mit dem offenen Nachbarschaftsplenum von Agia Paraskewi kann über anoixtisyneleysiagparaskevis@gmail.com Kontakt aufgenommen werden.

Von Meggy Reuter (p)