Redebeitrag der Kiezversammlung auf der Mietenstopp-Demo 2016

19. September 2016

Der Kiez – eine Bestandsaufnahme

Niedrige Mieten haben über Jahrzehnte hinweg in verschiedenen Berliner Bezirken gemischte Millieus geschaffen. Einwanderer*innen und ihre Familien, Künstler*innen, Student*innen und Menschen mit geringem Einkommen können hier nebeneinander leben. Ohne Angst vor Übergriffen durch Rechte. Diese Kieze sind bedroht: Die Häuser gehören nicht denen, die sie brauchen. Sie sind als Spekulationsobjekte international bekannt und begehrt. Mit legalen und außergesetzlichen Mitteln wird systematisch die Auflösung alter Verträge angestrebt. So können die Wohnungen zu einem Vielfachen der alten Miete neu vermietet oder als Eigentumswohnungen verkauft werden. Was mit den Altmieter*innen passiert, interessiert die Eigentümer*innen nicht. Und die Politik konzentriert sich lediglich auf eine Pseudo-Vermittlung zwischen den Interessen der Besitzenden und den Bedürfnissen der Benutzenden. Die so entstandenen Werkzeuge die der Verdrängung entgegenwirken sollen, wie der Milieuschutz, sind unvollständig. Und sie werden von den Bezirksverwaltungen nur halbherzig umgesetzt. Dieses Vorgehen zeigt deutlich, wem der Vorzug gegeben wird: Das Interesse der Politik an den Profiten Weniger ist grösser als ihr Interesse an einer guten Gesellschaft für alle.

Unsere Kiezversammlung

Seit Juli 2015 gibt es in Nord-Neukölln eine Kiezversammlung. Sie ist ein Ort, an dem sich Nachbar*innen begegnen und austauschen. Im Plenum erhalten alle die Möglichkeit, über ihre Probleme zu sprechen und gehört zu werden. In der Diskussion suchen wir gemeinsam nach Wegen, die Vereinzelung und Ohnmacht zu durchbrechen. Die Kommunikation ist nicht immer einfach oder konfliktfrei. Es entwickeln sich jedoch Ideen zu gemeinsamen Projekten. Zum Beispiel wie der Kiez – die Nachbarschaft – zusammenkommen und zusammenhalten kann. Denn gegen die Vertreibung aus ihrem Lebensumfeld müssen die Menschen dieses Lebensumfeld selbst organisieren. Die Grundlage hierfür bildet der Wunsch nach einem würdevollen Leben und die Überzeugung, dass Solidarität und Unabhängigkeit unweigerlich dazugehören. Darüber hinaus gilt es das Gemeinsame aller, die sich an der Kiezversammlung beteiligen, zu suchen und zu finden. Dies kann nicht von Wenigen vorweg genommen werden. Die Kiezversammlung ist so gesehen ein laufender und offener Prozess. Die Teilnehmenden suchen, finden und gestalten immer wieder den Rahmen, der unsere Unterschiede aushält. Einen Rahmen, in dem sich die Unterschiede ausdrücken können, ohne uns zu spalten.

Versammlung der Vielfalt?

Der Ausdruck von Unterschieden bei Vermeidung der Spaltung ist wichtig, weil sich in den Berliner Kiezen nicht nur der Widerstand gegen Verdrängung und den Ausverkauf der Stadt artikuliert, sondern auch eine Vielfalt anderer Kämpfe:

  • Antifa-Gruppen halten seit Jahrzehnten Nazis und Rechtspopulist*innen davon ab, in unseren Nachbarschaften Fuss zu fassen.
  • Besetzte Häuser wie die Rigaer 94 und autonome Kiezläden wie die Friedel 54 kämpfen um ihr Überleben als kapitalismuskritische Freiräume.
  • Seit 2012 fordern geflüchtete Menschen elementare gesellschaftliche und politische Rechte ein und haben Plätze (Oranienplatz, Pariser Platz) und Häuser (Gerhard-Hauptmann-Schule, Gürtelstraße ) besetzt.
  • Feministische und LGBTI*-Gruppen formieren sich gegen patriarchale und sexistische Alltagsverhältnisse und gehen gegen christliche Fundamentalist*innen auf die Straße (Marsch für das Leben? What the fuck?).
  • Und die politische Organisierung von Behinderten (AK Mob, Pride Parade) oder Erwerbslosen (Basta-Erwerbsloseninitiative) bildet eigene Formen und Praktiken aus.

Zugleich hat sich im Herbst 2015 gezeigt, dass die Zivilgesellschaft in der Lage ist eigene Strukturen erfolgreich zu unterhalten: Verschiedene selbstorganisierte Hilfsorganisationen (z.B. Friedrichshain-hilft, Moabit-hilft u.v.a.m.) haben die Eskalation der humanitären Krise verhindert, die das Versagen des Staates im Umgang mit den Kriegsflüchtlingen (z.B. am LaGeSo) hervorgebracht hat und immer noch hervorbringt.

All diese Prozesse finden hier, in unserer Stadt, in unseren Kiezen statt. Sie können aus einem Austausch untereinander nur Stärke beziehen. Sie alle sind politisch, und die Kiezversammlung kann ein Forum für ihren gegenseitigen Bezug sein, ein Ort ihrer Begegnung.

Für eine andere Art von Politik: Für eine Politik der Begegnung – Bildet Kiezversammlungen!

Die Mietenstopp-Demo auf der Großbeerenstraße.


 

Der Redebeitrag wurde auf der Mietenstopp-Demo „Gemeinsam gegen Verdrängung, Ausgrenzung, Armut und den Ausverkauf der Stadt“ am 10.9.2016 in Kreuzberg 61 gehalten. Unter folgendem Link geht es zum Aufruf und den Demoplakaten. Hier finden sich ebenfalls online-Materialien zur Demo. Hier gibt es Fotos. Hier ist eine Auswertung der Demo erschienen. Berichte zur Mietenstopp-Demo gibt es unter folgenden Links:

– mietenstopp.blogsport.de: Mietenstoppdemo – erste Einschätzungen und Bilder
– Berliner Zeitung: Demo gegen Entmietungspraktiken in Kreuzberg
– Taz: Berlins MieterInnen machen Druck
– Neues Deutschland: 1000 fordern Mieten-Stopp

Statement des Graffiti-Künstlers ,Prost‘ zum Gefahrengebiet in der Rigaer Straße.

Derselbe Redebeitrag wurde auf der festlichen Kundgebung in der Rigaer Straße „All colours are beautiful – zusammen leben – zusammen widerstehen“ am 17.9.2016 gehalten. Folgender Link führt zur Kundgebungseinladung. Weitere Links zeigen Impressionen und Videos.

Folgende Links führen zu den Gruppen und Initiativen, die im Redebeitrag erwähnt werden:

– Rigaer 94
– Friedel 54
– Oplatz.net – Berlin Refugee Movement
– WTF?!
– AK Mob
– Pride-Parade Berlin
– Basta Erwerbsloseninitiative
– Friedrichshain-hilft
– Moabit-hilft