Rollkofferalarm im Hinterhof – Grundlagentext zum Thema Tourismus

7. Februar 2017

Seit Jahren betrifft es mehr und mehr Berliner: Massentourismus in der Nachbarschaft. Lärm, Müll und ein Ausverkauf des öffentlichen Raums sind nur einige der wachsenden Konfliktherde. Vielfältig sind die Meinungen und unterschiedlich der Umgang mit diesem Thema. Der folgende Text ist als Einstieg gedacht, und versucht einen Überblick zu liefern, damit Leser*innen sich selbst ein kritisches Bild machen können. Eine AG-Tourismus der Kiezversammlung ist angedacht, bei Interesse kann unter info@kiezversammlung44.de Kontakt aufgenommen werden.

Beim Umgang mit dem Thema Tourismus sollen hier folgende Fragen beachtet werden:

  1. Welche Situation stellt sich im Augenblick dar?
  2. Was/Wer ist ein Tourist?
  3. Was lässt sich über den Prozess sagen?
  4. Was wollen die Antagonisten der Kritiker und Befürworter?

Am Schluss steht ein kurzer Ausblick.

1. Situationsdarstellung

Unbestritten ist die Tatsache, dass sich Berlin seit dem Mauerfall zu einer „Tourismus-Boom-Town“ entwickelt hat. Tourismus- Befürworter aus Senat und Wirtschaft werden nicht müde die Entwicklung zu loben. So belegen die offiziellen Übernachtungszahlen (1993: 7,3 Mio; 2010: 21 Mio; 2015: 30 Mio.) einen extremen Anstieg. Die Verteilung der Besucher im Stadtgebiet zentriert sich hierbei auf die Innenstadtviertel, so dass es eine deutlich erhöhten Frequenz in Gebieten wie Mitte, Prenzlauer Berg, Friedrichshain-Kreuzberg oder Neukölln zu verzeichnen gibt.

Konfliktfelder

Von den Befürwortern des Tourismus bleiben in der Regel Probleme unbeachtet, die mit diesem Phänomen in Verbindungen gebracht werden. Eine offene Aufzählung von Störfaktoren soll diese verdeutlichen. Sie lassen sich in drei funktionale Kategorien zusammenfassen: Belastungsfaktoren, Nutzungskonflikte, Einwirkungen auf den lokalen Wohnungsmarkt.

Belastungsfaktoren sind z.B.

• Müll
• Lärm
• Ansammlung großer Menschenmengen
• nächtliche Ruhestörung
• übertriebener Alkoholkonsum

Nutzungskonflikte sind z.B.

• Inanspruchnahme des öffentlichen Raums (z.B Gehwege)
• Kommerzialisierung des Alltags

Einwirkungen auf den Wohnraumsituation sind z.B.

• Verknappung des Wohnraums
• Mieterhöhung durch gestiegene Gewinnerwartung der Hausbesitzer

Am häufigsten setzt Kritik an den persönlich empfundenen Belastungen an. Während diese Störungen auf Verfehlungen Einzelner oder bestimmter Gruppen zurück zu führen sind, die durch konkrete lokale Faktoren, wie gastronomische Infrastruktur, verstärkt werden, handelt es sich bei den Nutzungskonflikten und bei den Einwirkungen auf die Wohnraumsituation um strukturelle Spannungen, die zwischen Gruppen mit unterschiedlichen Interessenlagen entstehen. Dies wirft die grundsätzliche Frage auf, wem der Raum gehört und wer darüber entscheidet. Strukturelle Konflikte und ihre Auswirkungen bedürfen einer umfassenderen Analyse. Nur vereinzelt wird das Problemfeld geöffnet und strategisch nach unverkürzten Antworten gesucht.

2. Was/Wer ist Tourist?

Die erfassten offiziellen Übernachtungszahlen aus dem Hotellerie-Gewerbe bilden nur einen Teil der Berlinbesucher ab. Dies führt folglich zu der Frage, wer zu dieser Gruppe gezählt werden kann. Die Anwendung einer gängigen Tourismus-Definition,

Tourismus besteht aus der zentralen Praktik des Reisens, das eine spezifische Art von konsumierbaren Orten benötigt und hervorbringt.

führt alle Menschen zusammen, die aktiv am Prozess des Reisens teilhaben. Eine offene Aufzählung soll hier den Umfang verdeutlichen: Tagestouristen, Couchsurfer, Privatbesuche, Bezieher von AirBnB- und Ferienwohnungen, Easy-Jet-Set, Event-, Konferenz- und Bildungsbesucher, …
Die Unterschiedlichkeit kann kaum größer sein und so verwundert auch die Schwierigkeit nicht, Menschen im öffentlichen Raum eindeutig per Augenschein als Tourist zu identifizieren, ohne auf eine stereotype Zuordnung zurück zu greifen. Dies ist eines der methodischen Probleme, das sich bei einer systematischen Bearbeitung des Themas stellt.
Trotz ihrer Unterschiedlichkeit ist Touristen eine zentrale Gemeinsamkeit eigen: die Sehnsucht nach Orten und dem damit verbundenen Lebensgefühl. Wesentlich ist, dass es sich bei den Sehnsuchtsorten nicht um reale Orte handeln muss, sondern es sich in der Regel um Orte dreht, die vor allem in der Vorstellung und durch Erzählungen existieren. Kommunikation mit all ihren Medien kommt dabei eine besondere Mittlerfunktion zu (Fernsehen, Radio, soziale Netzwerke, Print- und Plakatwerbung). Die Orte, die tatsächlich von Touristen bereist werden, bilden sich im Austauschprozess zwischen Konsumenten und Angebot heraus und verändern somit ihren Charakter. Zudem treten Touristen zunehmend aus der Rolle des passiven Konsumenten heraus, wie Teile der internationalen Kreativ-Szene zeigen. Sie gestalten aktiv die eigenen Räume inklusive eigener Kommunikationsstruktur mit eigenen Mythen und Erzählungen.

Alle Touristen erfüllen Grundbedingungen, um an der Praktik des Reisens teilhaben zu können: Zugang zu Mobilität, finanzielles Vermögen, Reiseprivilegien. Da eine große Menge Menschen diese trivial erscheinenden Bedingungen nicht erfüllt, eignen sie sich gut als Abgrenzungskriterien. Trotzdem bleibt die Abgrenzung zur lokalen Bevölkerung unklar. Die Berücksichtigung veränderter Lebensstile und der Internationalisierung des Alltags verdeutlicht dies im besonderem Maß. Freundeskreise internationalisieren sich zunehmend, europäischer Easy-Jet-Set trifft auf Wochenend-Marathonparty-Events, europäische Migration wird ohne bestimmtes Ende angefangen oder besteht aus klar definierter Teilzeit an mehreren Orten, etc. Durch die Veränderung von Alltagspraxen nähern sich die zu unterscheidenden Gruppen von Besuchern und Anwohnern zunehmend an.

3. Wie funktioniert Tourismus? – Eine Prozessbeschreibung

Die oben aufgeführten Schwierigkeiten der Abgrenzung der Gruppe „Tourist“ von der Gruppe der „Locals“ führen zu der Frage, ob eine Beschreibung des Prozesses nicht mehr Klarheit verschafft.
Die Ursachen, das Wie, Woher, Warum, des erfolgreichen Tourismus-Booms bleiben im Unklaren und werden als Gegeben vorausgesetzt. Der Prozess lässt sich mit einem sich selbst verstärkenden Wirkungskreis beschreiben: Sich gegenseitig bedingendes attraktives Angebot und steigende Nachfrage ziehen steigende Profite und wachsende Gewinnerwartungen nach sich und markieren somit den Beginn einer einsetzenden Preisspirale. Auf diese Betrachtungsebene gebracht scheint der Tourismus-Prozess nur ein weiterer Bestandteil von Aufwertungsprozessen, wie der Gentrifizierung, zu sein. Die Auswirkungen auf die lokale Ökonomie lassen sich gut durch zwei Aspekte beschreiben, welche für sich alleine genommen ein unzureichendes Bild widerspiegeln:

• Einzug monostruktureller, massentauglicher Ökonomie für zahlungskräftige Besucher
• Einzug flexibler Gebilde mit geringer Halbwertszeit in mikrokapitalistischer Dienstleistungsvielfalt

In der Kritik am Tourismus wird vorrangig das Bild von großmaßstäbigen monostrukturellen Veränderungen hervorgehoben. In der Anfangsphase wird der Prozess aber vom zweiten Aspekt geprägt: Auf einem harten Konkurrenzfeld von vielen kleinen Unternehmen werden fortwährend Betriebe an den Wirtschaftsprozess angepasst bzw. aus ihm ausgesiebt, mit erheblichen Konsequenzen für die einzelnen Betroffenen.

Einwirkung auf die Wohnraumsituation

Die Auswirkungen von Tourismus auf die Stadtviertel folgt einer gewinnorientierten, kapitalistischen Verwertungslogik. Sie fließen somit in den allgemeinen Aufwertungsprozess mit ein, der in seiner Gesamtheit eine größere Komplexität umfasst. Für das direkte Wohnumfeld sind Orte von verdichteter Belastung von besonderer Bedeutung. Hier entzünden sich Konfliktherde mit den Anwohnern. Zwar muss auch hier eine Unterscheidung zwischen Orten des Nachtlebens mit erhöhter Tourismusfrequenz, wie Bars oder Clubs, und eindeutig touristischen Einrichtungen, wie Hostels oder Ferienwohnungen, getroffen werden. Touristische Infrastruktur eignet sich jedoch besser, um das Phänomen Tourismus zu erfassen als eine stereotype Zuordnung von Akteuren im Straßenbild.

4. Was wollen die Antagonisten der Kritiker und Befürworter?

Positionen der Befürworter

Trotz einer Vielzahl von Akteuren lassen sich zwei Akteursgruppen ausmachen, die maßgeblich den Prozess des Tourismus-Booms voranbringen wollen: Unternehmen, die direkt vom Tourismus profitieren wollen, und Politiker, die mit den Erfolgen der Unternehmen bei Wählern überzeugen wollen. Die Unternehmen bilden eine inhomogene Gruppe vom Einzelhändler bis zum Großkonzern, entsprechend vielschichtig sind die Interaktionsformen dieser Akteure im und mit dem Stadtgebiet. Im Auftrag von Politik und Unternehmen agieren zudem verschiedene Handlanger wie Planungsbüros, Interessenverbände oder Agenturen.
Gemeinsam ist allen Akteuren die besondere strategische Stellung der Kommunikation. Durch Werbung wird auf allen Ebenen an dem imaginären Sehnsuchtsbild Berlins gearbeitet. Es handelt sich um eine „image“-Produktion, das sich konkret vermarkten lässt. Hier wird das Bedürfnis nach Sehnsuchtsorten bedient und gleichzeitig daran gearbeitet, neue „Traum“orte zu schaffen.
Das gängige Argumentationsmuster der Befürworter ist ein in sich geschlossener Argumentationszirkel, wird über administrative und Marketing-Kanäle häufig reproduziert und soll daher hier nur kurz zusammengefasst werden: Ansteigender Tourismus bringt mehr Umsatz, einen größeren Bedarf an Arbeitskräften und zusammen mit größeren Steuereinnahmen wird es mehr Wohlstand für alle geben.[1] Die Kritik an dieser Argumentation ist vielfältig. Das Leitbild bleibt grob und offenbart keine Details, wie der Wohlstandstransfer im Einzelnen funktionieren soll. Der Zusammenhang zwischen dem Wohlergehen einzelner Unternehmen und dem Wohlergehen der Allgemeinheit wird stets behauptet, aber nirgendwo belegt. Das Wachstum ist dann nicht nachhaltig, wenn der Tourismus nachhaltig Strukturen zerstört, nach denen er sich sehnt. Die Tourismus-Vermarktung steckt damit in einem Wachstums-Authentizität-Dilemma. Auffällig ist die lang andauernde einseitige Kommunikation der Befürworter, die sich darauf beschränkt für die Bevölkerung positive Werbebotschaften zu senden, anstatt Strategien für eine ausgewogene Entwicklung voranzubringen. Seit 2014 scheint ein neuer Ansatz einzufließen, der mit Kampagnen wie Du-hier-in-Berlin versucht, Positionen der Anwohner aufzugreifen, umzulenken und für die eigenen Argumentationsmuster zu instrumentalisieren.

Positionen der Kritiker

Zentralen Anteil an der Gruppe der Kritiker nehmen Betroffene, also Einzelpersonen und Initiativen, Anwohner und Anlieger, die auf die eine oder andere Art von den Konfliktfeldern berührt werden. Auch hier lässt sich differenzieren: so haben verschiedene Einzelhändler und Teile der (Sub-)Kultur zwar ein reges Interesse an Besuchern und leben wirtschaftlich von ihnen, bestimmte Ausprägungen zerstören hingegen ein Geschäftsmodell, das z.B. auf einem hohen Maß an Authentizität oder einem besonderen Raumnutzungskonzept beruhen kann. Einige Akteure adressieren ihre Vorschläge direkt an die Politik und erwarten eine Verbesserung der Situation durch verwaltungstechnische Regelungen.
In verschiedenen Varianten lassen sich immer wieder die These des „Touristen als idealtypischen Gentrifizierer“ und der „Tourismus als Motor für die Stadtveränderung“ finden.  Diese erste Analyse ist in Anbetracht der Abgrenzungsschwierigkeiten des Touristen schwierig. Den Tourismus-Prozess als entscheidende Aufwertungsursache auszumachen ist ein möglicher Ansatz, der jedoch nicht vollständig den gesamten Aufwertungs-Prozess beschreiben kann.

Interessant sind die Kommunikationsmethoden, mit denen Kritik am Tourismus im öffentlichen Raum transportiert wird, wie z.B. Graffitis oder Sticker. Mit diesen adressieren die Kritiker ihre Botschaften in konzentriert-reduzierter Form, und nehmen die vornehmliche Gegensätzlichkeit von Touristen und Anwohnern auf, wie Slogans wie „Du bist kein Berliner“, „Touristen fisten“ oder „No more rollkoffer“ belegen. Diese greifen inhaltlich jedoch zu kurz, um den Prozess angemessen zu beschreiben, und bedienen sich der oben erwähnten stereotypen Verkürzungen. Generell kann immer wieder beobachtet werden, wie die Kritik am Tourismus tendenziell zu einer Auseinandersetzung zwischen „Althergebrachtem“, „Wahrem“ und dem „Fremden“ stilisiert wird. Die Problematik des Denkens in diesen scheinbar gegensätzlichen Gruppen wird deutlich, wenn berücksichtigt wird, dass der Hauptteil der hier lebenden Berliner migriert ist und folglich auch zunächst diesen Ort bereist haben muss, um ihn zu erreichen. Der verkürzte Antagonismus zwischen Alteingesessen und Besuchern birgt die Gefahr der Verfestigung von Stereotypiserungen des Anderen und der Überhöhung der eigenen lokalen Kultur, was typische Strukturmerkmale rassistischer und nationalistischer Denkmuster sind. Gerade in Berliner Stadtvierteln, denen ein toleranter, weltoffener Umgang zugeschrieben wird, wird Kritikern, die diesen Ansatz bedienen, mangelnde Integrität gegenüber den ihnen zugeschriebenen Werten vorgeworfen, und ihnen damit grundsätzlich das Recht zur Kritik abgesprochen. Tatsächlich muss sich ausformulierte Kritik mit dem Dilemma auseinandersetzen, dass kommunikationskräftige Schlagzeilen gefunden werden müssen, die sich immer dem Nachteil einer verkürzten Kritik aussetzen. Nur selten finden sich reflektiertere Aussagen im öffentlichen Raum, die entsprechend mehr Text und eine geeignete Kommunikationsplattform brauchen. Wandzeitungen aus dem Schillerkiez (verlinkt ist hier die englische Version) oder die differenzierte Ansprache der Anwohnerinitiative „Kotti und Co“  sind Beispiele für eine intensivere Interaktionsform mit Besuchern. Ob diese Kommunikationsansätze ihre Zielgruppe tatsächlich auch erreichen, kann nicht belegt werden.

Ausblick

Arbeitsbedarf und Anknüpfungspunkte zum Thema Tourismus finden sich genügend. Ist ein klares Identifizieren des „Touris“ sinnvoll und zielführend? Welche Kategorien würde es brauchen, um nicht in Stereotype zu verfallen und gleichzeitig das Phänomen angemessen abzubilden? Oder ist eine Verschiebung des Schwerpunkts auf eine Betrachtung von Orten verdichteter Belastung erfolgsversprechender, vor allem in Hinblick auf die Aktivierung von Betroffenen? Eine kritische Auseinandersetzung braucht Antworten auf diese Fragen, um zielführende Kritik formulieren zu können.

Von Paule Panther (p)


1. Siehe das „Tourismuskonzept 2011“ oder das Konzeptpapier „Wirtschaftsfaktor Tourismus (2011)“ als PDF-Downloads